Wenn künstliche Intelligenz lebendig wird
Reiseeindrücke aus dem indischen Bundesstaat Madhya Pradesh
Im Oktober 2018 reiste ein sechsköpfiges Team der Welthungerhilfe, von Microsoft Deutschland und der Digitalagentur PAGES Media nach Sawadi und Heerapur, zwei Dörfer im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh, um die Technologie-Initiative zum Child Growth Monitor, kurz CGM, live im Einsatz zu erleben. Ziel war es, sich ein umfassendes Bild von bestehenden Problemen und Herausforderungen bei der praktischen Anwendung zu machen, um auf dieser Basis die Weichen für künftige Verbesserungen zu stellen. Aus meinen persönlichen Eindrücken ist der folgende Reisebericht entstanden (auch als Video).
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Mit dem Zug auf dem Weg zu Regionen, in denen Hilfe dringend nötig ist
Endlose Felder ziehen vor meinem Auge vorbei, die Luft flirrt vor Hitze. Der Zug, der uns die 350 Kilometer vom Ankunftsflughafen in Delhi nach Süden Richtung Gwalior bringt – und damit näher an das aktuelle Innovationsprojekt der Welthungerhilfe Child Growth Monitor–, rattert durch karge Landschaften und kleine Orte. Hinter mir liegen die ersten Eindrücke einer 11-Millionen-Einwohner-Stadt: dichter, lärmender Verkehr, nach unseren (westlichen) Maßstäben fragwürdige Infrastruktur und unzählige Menschen, die offen in Armut an, neben und mitunter auch auf den vermüllten Straßen leben. Die flächendeckende, umfassende Armut und das Leben unter einfachsten Bedingungen sind sehr bedrückend. Erst hier vor Ort wird einem klar, was es bedeutet, wenn statistisch gesehen 600 Millionen Menschen in Indien keinen Zugang zu einer funktionierenden Kanalisation haben.
Unsere Reise wird uns in zwei kleinere Dörfer im Bundesstaat Madhya Pradesh führen, in denen die Welthungerhilfe zurzeit ihr wichtigstes Innovationsprojekt vorantreibt: die Entwicklung einer App, mit der eine Mangel- oder Unterernährung von Kindern im kritischen Alter zwischen 0 und 5 Jahren erkannt werden soll, um den Betroffenen rechtzeitig die richtige Hilfe zukommen zu lassen. Die App läuft auf modernen Smartphones mit Infrarot-Sensoren, mit denen die Kinder vermessen werden. Ein Algorithmus wertet mithilfe künstlicher Intelligenz die unzähligen Datenpunkte aus, sodass zielgerichtet ermittelt werden kann, ob bei einem Kind Handlungsbedarf besteht. Auf Basis der generierten Daten sollen die betroffenen Kinder in spezielle Ernährungsprogramme aufgenommen werden, um einer drohenden Entwicklungsverzögerung entgegenzuwirken.
Jochen Moninger, Leiter der Stabsstelle Innovation bei der Welthungerhilfe, hat das Projekt initiiert. Seit Anfang dieses Jahres ist Microsoft als Technologiepartner an Bord, während Munich Re die Kooperation mit umfassender Expertise in der Auswertung großer Datenmengen unterstützt. Ebenfalls involviert ist Social Impact Partners, die das Bindeglied zwischen den operativen Geschäftseinheiten der Munich Re und den humanitären Organisationen im Entwicklungshilfesektor darstellt. Auf dieser Reise geht es für uns nun darum, die reale Anwendung mitzuverfolgen und uns ein Bild von den Herausforderungen zu machen, um die nächsten sinnvollen Schritte abzustimmen. Zusätzlich begleitet uns ein Kamerateam von PAGES Media, das ein Projektvideo drehen wird.
Zwischenstation im indischen Nirgendwo zwischen Sawadi und Heerapur: Hunger ist unsichtbar.
Die zweite Station unserer Reise hat uns in den Norden des Bundesstaats Madhya Pradesh, in den Distrikt Sheopur, geführt. Madhya Pradesh mit knapp 73 Millionen Einwohnern zählt zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Bundesstaaten Indiens und liegt in dessen nationalem Human Development Index auf Platz 27 von 29.
Im Kindergarten des Dorfes Sawadi, in dem 164 Familien leben, arbeiten Experten der Welthungerhilfe gemeinsam mit ausgebildeten Einwohnern daran, den Ernährungsstatus der Kinder zu erfassen. Hier haben wir erstmals die Smartphone-App in Aktion gesehen: Die Infrarotsensoren erfassen in 3D-Aufnahmen Tausende Datenpunkte des Kindes in unterschiedlichen Körperpositionen. Auf diese Weise entsteht ein immenses Datenvolumen, und dies kann nur per Rechenpower aus der Cloud sinnvoll verarbeitet werden. Der dahinter liegende KI-Algorithmus lernt beständig hinzu und sorgt auf diese Weise dafür, dass die Treffergenauigkeit immer höher wird.
Was für mich persönlich die einprägsamste Erfahrung war und gleichzeitig die Wichtigkeit des Projekts einmal mehr unterstreicht: Mangel- oder Unterernährung ist mit dem bloßen Auge nicht erkennbar – und doch betrifft sie allein in Sawadi 40 Prozent der Kinder. Fakt ist, dass manche Kinder zwar zunächst „normal“ ernährt aussehen, jedoch eine ungünstige Weight-to-Height-Ratio aufweisen, die sich nachteilig auf ihre kognitive Entwicklung auswirken kann. Äußerliche Anzeichen wie Kleinwüchsigkeit oder Apathie sind lediglich Indizien, aber noch keine handfesten Messgrößen. Ebenso gibt es eine Reihe von sehr aktiven und fröhlichen Kindern, die dennoch ernährungsseitig Hilfe benötigen.
Mit den klassischen Erfassungsmethoden (Wiegen und Messen) kann das Kernproblem bei der Bekämpfung von Hunger – nämlich die Identifizierung der Hilfebedürftigen – nicht effektiv gelöst werden. Zum einen werden lediglich 70 Prozent der Kinder überhaupt vermessen und gewogen, und zum anderen entstehen durch die manuellen Prozesse und die technisch anfälligen Geräte hohe Fehlerquoten, sodass bis zu 50 Prozent der Daten nicht nutzbar sind. Zugleich sind die Abläufe zu langwierig und wenig transparent: Die Listen mit den erfassten Daten erreichen die Hilfsorganisationen nicht selten mit zweijähriger Verspätung und eine Verlaufsbeobachtung individueller Personen ist ebenfalls nicht möglich. Hier sind objektive Messkriterien und einfach zu bedienende Werkzeuge gefragt, und genau da setzt der Child Growth Monitor der Welthungerhilfe an, wie Jochen Moninger in diesem Interview-Beitrag anschaulich erläutert.
So schließt sich der Kreis. Denn der Child Growth Monitor sorgt nicht nur für eine bessere, kostengünstigere und schnellere Erfassung der Daten, sondern auch für eine präzisere Auswertung und kontinuierliche Nachverfolgung, damit die Hilfsangebote zielgerichtet eingesetzt werden können und die richtigen Kinder erreichen.
Auf dem Heimweg nach Deutschland – mit Millionen Erinnerungen im Gepäck
Selten haben so wenige Tage so tiefe Eindrücke hinterlassen wie auf dieser Reise durch Indien. Als Microsoft-Mitarbeiter haben Kassandra Xavier Esteves und ich die nachhaltige Erfahrung machen dürfen und die Chance erhalten, uns nicht nur theoretisch, sondern wirklich praktisch einzubringen, um ein Projekt marktreif zu machen. Der Child Growth Monitor steht exemplarisch dafür, wie Unternehmen – in diesem Fall Microsoft, Munich Re und Social Impact Partners – sich direkt in Social Business Projekten engagieren, dabei ihre jeweilige Expertise optimal vereinen und somit auf dieser Welt wirklich etwas bewegen können.
Die vergangenen Tage haben uns vor Augen geführt, dass NGOs große Innovationsprojekte wie den Child Growth Monitor nicht allein stemmen können, sondern dafür starke Partner benötigen. Zwar können NGOs mit finanziellen Mitteln aus Spenden Einiges bewegen, doch langfristiges Commitment von Unternehmen aus der Privatwirtschaft, die ihre eigenen Kernkompetenzen und ihr Know-how einbringen, haben einen noch umfassenderen Effekt.
Wir sind bereits gespannt auf die nächsten Schritte. Geplant ist, die Vorteile des Child Growth Monitor mit seiner neuen Art der Datenerhebung auch für andere Entwicklungshilfeorganisationen zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich soll die App zum neuen Standard weltweit werden. Das nächste Ziel der Welthungerhilfe ist es daher, den Child Growth Monitor im kommenden Jahr als Social Business aufzubauen und die Kosten durch unternehmerisches Handeln wieder hereinzuholen, indem Einnahmen generiert werden. Ein Engagement in Social Business bietet wiederum den teilhabenden Unternehmen den Vorteil, ihren Firmenwert mittel- und langfristig zu steigern.
Aus der Sicht von Microsoft bedeutet das: Technologie und Innovationen aus dem Bereich Cloud Computing und Künstliche Intelligenz werden hier zum Hebel, um eine grundsätzliche Veränderung anzustoßen, die den Menschen in Entwicklungsländern langfristig und nachhaltig zugutekommt. So ist der Child Growth Monitor nicht zuletzt auch ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Mission von Microsoft – Empower every person and every organization on the planet to achieve more – gelebt wird.
Fazit
Die Reise hat allen Projektbeteiligten eines verdeutlicht: Es ist etwas völlig anderes, mit eigenen Augen zu sehen, wie ein Projekt zum Leben erweckt wird, als am Schreibtisch oder in einem Besprechungsraum über die Bereitstellung von Rechenressourcen in der Cloud oder AI-Technologie zu diskutieren.
Im Falle des Child Growth Monitor konnten wir vor Ort sehen, wie die Abläufe funktionieren, wo Verbesserungspotenziale liegen und welche Problematiken bei der Messung und Erfassung der Daten entstehen. Praktische Fragen – praktische Lösungen.
An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an:
- Die Welthungerhilfe und hier speziell Jochen Moninger und Pooja Chowdhary, die nicht nur wichtiges Bindeglied im Kontakt mit den Dorfeinwohnern waren, sondern durch ihre langjährige Erfahrung und wirtschaftliches Denken das Projekt hoch effektiv steuern.
- Die Datenanalysten von Munich Re und Dr. Michael Menhart, die ihr Know-how bereitwillig zur Verfügung gestellt haben und nie müde wurden, die gesamtgesellschaftliche Dimension dieses Projekts zu betonen.
- Das engagierte Team von PAGES Media, denen das Projekt um den CGM eine echte Herzensangelegenheit war, das sich im Vorfeld nicht von Problemen mit Visa und Drehgenehmigungen hat aufhalten lassen und auch die Zusammenarbeit mit dem indischen Kamerateam vor Ort optimal gestalten konnte.
- Das Microsoft-Führungsteam mit Joao Couto und Martin Große, die viel Herzblut in dieses Projekt investiert und diese Reise für uns ermöglicht haben, sowie an alle weiteren beteiligten Microsoft-Kollegen.
Wer die Weiterentwicklung des Child Growth Monitor unterstützen möchte, kann hier einfach für das Projekt der Welthungerhilfe spenden oder die Bankverbindung IBAN DE15 3705 0198 0000 0011 15, Stichwort: Child Growth Monitor, verwenden.